Schwer begeistert

Um 2017 mit einer gemeinsamen Familienunernehmung ausklingen zu lassen und dem Sohn seinen schon seit langem geäußerten Wunsch zu erfüllen, den „Film mit den Geistern“ im Kino anzusehen, begaben wir uns am Silverstertag zu dritt in das Lichtspielhaus unseres Vertrauens und sahen uns das neueste Animationsabenteuer aus dem Hause Pixar an: Coco (Link zu IMDB). Der Junior hat ein großes Herz für Gespenster und fabulöse Wesen – genau wie seine Mama. Eine Geschichte, in der es von Skeletten nur so wimmelt, schien da schon bei erster Sichtung des Trailers wie für uns gemacht. Aber nicht nur die schiere Anwesenheit von liebenswerten Knochenmännern und -frauen ließ uns alle das Kino am Ende in mehrfacher Hinsicht schwer begeistert verlassen.

Coco ist etwas ganz Besonderes. Dieser Film ist so viel mehr als eine nette Unterhaltung, die man einfach so konsumiert. Die Handlung um den mexikanischen Jungen Miguel, dessen Traum es ist, Musiker zu werden, ist so facettenreich wie das wirkliche Leben. Zu diesem gehört – da gibt es nichts zu rütteln – nun mal auch der Tod. Mit dem Tag der Toten (Día de los Muertos, Link zu Wikipedia) haben die Mexikaner eine ganz und gar wunderbare Tradition gefunden, mit diesem schwierigen Thema umzugehen, die sich nicht umsonst weltweit immer größerer Popularität erfreut. Als der ehrgeizige Miguel eben an diesem Festtag für die Verstorbenen die Gitarre eines großen Mariachi aus dessen Gruft entwendet, zieht er damit einen Fluch auf sich, der ihn in das Reich der Toten wechseln lässt. Wenngleich in bester Absicht geschehen, um die Familie von seinem Herzenswunsch zu überzeugen, bestiehlt man die Geister nicht – schon gar nicht an ihrem großen Tag. Den Segen der resoluten Ur-Ur-Großmutter, der ihn in die Welt der Lebenden zurückbringen kann, lehnt Miguel kurzerhand ab, da er an die Bedingung geknüpft ist, das Streben nach einem Dasein als Mariachi für immer aufzugeben. Zu seiner großen Verwunderung haben nicht nur seine lebenden Verwandten der Musik komplett abgeschworen, nachdem ein gitarrespielender Vorfahr Frau und Tochter verließ und nie zurückkehrte, weil er seinen Traum verwirklichte. So beginnt für Miguel eine wahnwitzige Reise durch die Welt der Skelette, auf der Suche nach eben diesem schon lange verschiedenen Abtrünnigen der Familie, mit der Hoffnung, dass wenigstens dieser seine Ambitionen verstehen und ihm ohne Zwänge seinen Segen erteilen kann.

Von der ersten bis zur letzten Sekunde ist Coco eine Augenweide. Die Charaktere – lebende und tote – sind mit so viel Liebe zum Detail gestaltet, dass einem nur warm ums Herz werden kann, egal in welcher Welt das Geschehen gerade spielt. Das Team um Regisseur Lee Unkrich führt großen und kleinen Zuschauern mühelos die Schönheit vor Augen, die jedem Lebewesen innewohnt, ganz unabhängig von dessen Alter, Herkunft und Gattung. So sind die vielen Falten von Miguels Uroma Coco – Namensgeberin des Films – und das etwas zerzauste Aussehen des treuen Straßenhundes Dante lediglich Zeichen der Zeit, von denen man nie auf das wahre, innere Wesen schließen sollte. Und selbst die Toten werden nicht auf ihren Knochenbau reduziert, sondern tragen bei näherer Betrachtung allesamt ganz individuelle Merkmale.

Die wertvollen Botschaften, die in Coco vermittelt werden, sind so groß an der Zahl, dass man sie unmöglich alle einzeln aufzählen kann. Es geht um das Leben und Sterben. Es geht um den Respekt vor dem Alter und den Umgang mit den Alten. Es geht um Erinnerungen, die es zu bewahren und über Generationen weiterzugeben gilt. Es geht um Zusammenhalt und um die Bedeutung der Familie. Es geht darum, Veränderungen offen gegenüberzutreten und darum, vergeben zu können. Dies sind allesamt wichtige Aussagen in Zeiten, in denen Missgunst, Neid und Hass nur allzu oft öffentlich ausgelebt und ausgekostet werden und das Dissen manchmal, so scheint es, zum Volkssport erhoben wird. Damit diese Nachrichten bei Zuschauern aller Altersgruppen ankommen, wechseln sich leise und laute Töne ab und das Erzähltempo wird niemals zu sehr angezogen. Die Geschichte ist an keiner Stelle vorhersehbar und weiß immer wieder zu überraschen. Für Erwachsene gibt es genauso viele Gags und Anspielungen (Stichwort: Frida Kahlo) wie für Kinder. Dass der Funke selbst auf die Kleinsten überspringt, hat unser Sohn bewiesen, der am Ende von Coco entzückt in seinem Kinositz zur Musik hin und her wippte. Komponist Michael Giacchino leistet mit seiner folkloristisch inspirierten Untermalung einen wichtigen Beitrag zur Schaffung der wundervollen Welt dieses außergewöhnlichen Werks.

Geadelt wurde Coco in unserer Familia dann schließlich durch meinen Mann, der Animationsfilme nicht zwangsläufig zu seinen persönlichen Favoriten zählt, sich jedoch schon jetzt gemeinsam mit mir und dem Junior auf die Veröffentlichung fürs Heimkino freut. Ich persönlich habe noch nie einen Film gesehen, der so viele sensible Themen derart offen und feinfühlig thematisiert wie Coco. Zu allem Überfluss sind hier ausgerechnet Geisterskelette in der Lage, den Grusel abzubauen, der so manchen der Inhalte innewohnt. Hut ab vor Pixar für dieses mutige und aus der Masse angenehm herausragende Kinoabenteuer.