Eine Insel mit zwei Bergen

Deutsche Kinofilme und Fernsehproduktionen haben es schwer mit mir. Der Großteil davon trifft überhaupt nicht meinen Geschmack, vor allem dann, wenn krampfhaft versucht wird, mit beschränktem Budget möglichst nahe an Blockbuster-Hollywoodproduktionen mit ähnlicher Thematik heranzukommen. Das ruft bei mir regelmäßig schon beim Ansehen der Trailer heftiges Kopfschütteln hervor, denn meiner bescheidenen Meinung nach liegt das Können der heimischen Filmemacher nicht in diesem Bereich, sondern viel mehr bei der Familienunterhaltung. Hier gibt es seit jeher einen Output mit erstaunlicher Qualität. Dank namhafter deutscher Kinder- und Jugendbuchautoren, die jede Menge weltbekannte Klassiker verfasst haben, existiert genug Stoff, der eine (Neu-)Verfilmung wert ist. Mit großem Wohlwollen habe ich deshalb beobachtet, dass seit einigen Jahren die Werke von Otfried Preußler mit ihren Kinoversionen gewissermaßen ein kleines Comeback feiern – ganz verschwunden waren sie aus den Bücherregalen glücklicherweise nie. Das kleine Gespenst und Die kleine Hexe sind beide sehenswert. (Links bei Filmtiteln zu IMDB)

Gleichwohl opulenter und kostenintensiver produziert als die Geschichten vom Nachtgespenst und der guten Hexe kommt nun die Umsetzung von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer daher. Für Regisseur Dennis Gansel und sein Team war dies zweifellos kein leichtes Unterfangen, sorgt doch allein das Lesen des Titels bei Generationen von Eltern und Großeltern für wohlige Erinnerungen an spannende (Vor-)Lesestunden und einen Ohrwurm. Kultstatus genießt Michael Endes Vorlage verdientermaßen – in Buchform und als Fernsehstück der Augsburger Puppenkiste (Link zu Wikipedia). Sein altersgruppenübergreifend beliebtes Opus gegen Abschottung und Vorurteile, für Weltoffenheit und Abenteuerlust ist inhaltlich heute so aktuell wie zur Zeit seiner Entstehung.

Es ist erstaunlich, wie nahe am Roman der Film über die gesamte Spielzeit hinweg bleibt. Vom Casting über die Szenenbilder und die Kostüme bis zu den technisch hervorragenden Spezialeffekten haben die Macher ganze Arbeit geleistet. Die fantastische Welt von Findelkind Jim Knopf, der auf der winzigen Insel Lummerland in Gesellschaft der vier dort ansässigen, schrulligen Bewohner aufwächst, wird mit jeder Menge liebevoller Details zum Leben erweckt. Zusammen mit dem handfesten aber herzensguten Lokomotivführer Lukas und dessen empfindsamer Dampflokomotive Emma begibt sich Jim auf eine Reise, die die beiden Abenteurer bis ans Ende ihrer vor Wunderlichkeiten strotzenden Welt führt – und sogar noch darüber hinaus. Dabei trotzen sie extremen Naturgewalten, begegnen im wahrsten Sinne des Wortes fabelhaften Wesen und suchen nach einer verschwundenen Prinzessin.
Bleibe stets neugierig und begegne allem, was dir im ersten Augenblick fremd erscheinen mag, mit offenem Herzen. Die Welt ist groß, aber du musst dich nicht von ihrer Vielfältigkeit geängstigt fühlen. Das ist es, was uns die Abenteuer von Jim und Lukas in Buch und Film aufzeigen: Etwas immanent Wichtiges, das mein Mann und ich unserem Sohn stets vermitteln wollen.

Das Schauspielensemble harmoniert bis in die Nebenrollen und ist in bester Spiellaune. Henning Baum und Solomon Gordon transportieren die Freundschaft zwischen Lukas und Jim Knopf sehr überzeugend. Annette Frier und Christoph Maria Herbst mimen zusammen mit Uwe Ochsenknecht den herrlich seltsamen Rest der Lummerlandbevölkerung. Positiv aufgefallen ist mir außerdem die Leistung von Michael Herbig als Synchronsprecher für den animierten Halbdrachen Nepomuk, da er diesem einen eigenen Charakter verleiht, ohne seine Stimme künstlich zu verstellen und in eine seiner bekannten Rollen zu verfallen.

Musikalisch schafft es Ralf Wengenmayr das Lummerlandlied, das Fans der Augsburger Puppenkiste so ans Herz gewachsen ist, nicht überzustrapazieren. Er nutzt es als wiederkehrendes Thema, das in den restlichen Score geschickt und nie zu aufdringlich eingeflochten wird. Die von einem gewissen österreichischen Volksmusiker neu aufgenommene, viel diskutierte und völlig unnötige Version des einprägsamen Liedes hat es zum Glück nicht in den Film geschafft.

Alles in allem ist Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer eine sehr gelungene Inszenierung des Kinderbuchklassikers für die große Leinwand, an der vermutlich auch der Verfilmungen sonst eher kritisch gegenüber gestandene Michael Ende seine Freude gehabt hätte. Ein Besuch im Lichtspielhaus lohnt sich folglich allemal. Zusammen mit meiner Familie freue ich mich ab sofort auf den für 2020 geplanten zweiten Teil. Bis dahin lese ich dem Sohnemann das Buch vor. Wir haben gleich nach dem Verlassen des Kinosaals die Neuauflage mit Bildern aus dem Film gekauft (Link zum Buch auf Amazon.de). Die althergebrachte Fassung lagert derweil gut behütet im Bücherregal meiner Mutter. Der Weg zwischen Film und Buch kann also nebenbei umgekehrt funktionieren. Witzigerweise war dies bei mir als Kind im Fall der Unendlichen Geschichte genauso.