Die Kunst des Knotens

Es ist immer wieder erstaunlich, über welche Themen in den Medien – besonders in den Online-Medien – berichtet wird. Nicht alles, was im Internet publiziert wird, ist interessant. Viele Seltsamkeiten tummeln sich im Netz. An nicht wenigen kuriosen Berichten und Bildern bleibe ich regelmäßig hängen. Es ist sicher die kunterbunte Vielfalt im Netz, die auch große News-Seiten dazu inspiriert, das Interesse ihrer Leser mit auf den ersten Blick seltsam anmutenden Artikeln zu wecken, die näher betrachtet aber interessante Botschaften vermitteln. Hauptsache die Neugierde wird geweckt! So widmet sich Spiegel Online in einem lesenswerten Artikel dem Zusammenhang von Schuhen, Schnürsenkeln und Mathematik. (Quelle: Spiegel Online)

Zuerst faszinierte mich das Geschriebene, mehr noch weckte das letzte Bild der dazugehörigen Fotostrecke mein Interesse. Als ich den Text unter dem Bild las, traute ich meinen Augen kaum. Das Binden einer Schleife mag für den Außenstehenden nun nicht gerade ein spektakuläres Thema sein, über das es sich länger nachzudenken lohnt. Es gab diesbezüglich allerdings ein Erlebnis in meiner Kindheit, an das ich mich immer erinnern werde.

Es begab sich in den frühen Achtzigerjahren. Ich war im Kindergarten. Da die nette, verständnisvolle und für die Gruppe normalerweise zuständige Erzieherin aus irgendeinem Grund nicht zur Hand war, versuchte sich eine Vertreterin am täglichen Gruppenspiel im Stuhlkreis. Die resolute Dame mit der Absicht, den Kleinen an diesem Tag unbedingt etwas fürs Leben zu lehren, teilte an jedes Kind ein langes Band aus. Dieses musste im Sitzen um einen Oberschenkel gewickelt werden, auf dessen Oberseite eine Schleife gebunden werden sollte. In der Tat konnten einige Kinder sich noch nicht alleine die Schuhe zubinden. Dieser Zustand sollte nun für immer beendet werden.

Die Vertretungserzieherin zeigte langsam, wie das Schleifebinden ihrer Meinung nach richtig ging: Ein einfacher Knoten. Eine Schlaufe. Das andere Band um die Schlaufe herum. Durchziehen. Festziehen. Fertig. So musste das gemacht werden.

Dumm nur, dass ich nicht zu den Kindern gehörte, die keine Schleife binden konnten. Meine Mutter hatte mir schon längst beigebracht, meine Schuhe selbst zuzubinden, allerdings auf eine weniger komplizierte Art: Ein einfacher Knoten. Zwei Öhrchen (Schlaufen). Mit den Öhrchen einen weiteren einfachen Knoten binden. Festziehen. Fertig. Für mich als Kind ging das viel einfacher von der Hand, als die umständliche Wickelaktion mit anschließendem Durchziehen.

Zuerst versuchte ich der Verzieherin – in Anbetracht ihrer Sturheit sicher der passendere Ausdruck – zu erklären, dass es nicht nur eine Möglichkeit gab, musste mich argumentativ aber einem mehrfachen, profanen „Nein!“ geschlagen geben. Solche Situationen sollten mir im weiteren Leben – vor allem im Arbeitsleben – noch öfter begegnen. Sie wollte einfach nicht hören. Argumentieren zwecklos. Schließlich hatte sie sich zuvor penibelst zurechtgelegt, was sie an diesem Tag lehren wollte und es wäre ja unerhört, wenn sie sich da von einem kleinen Naseweis dazwischenfunken hätte lassen. Und wie sie es lehren wollte! Als es um das Leeren des Gruppenraumes am Ende des Vormittages ging, setzte sie kurzerhand fest, dass nur diejenigen Kinder aufstehen und gehen durften, die erfolgreich eine Schleife gebunden hatten.

Ein Mädchen neben mir verzweifelte an dem für Kinderhände komplizierten Knoten. Ich konnte das nicht mit ansehen und verweigerte mich zu dem Zeitpunkt innerlich schon aus purem Trotz dem Lerninhalt. Als die Verzieherin sich verzog und mir den Rücken zuwandte, da sie damit beschäftigt war, anderen Kindern ihre Wahrheit über schön gebundene Schleifen einzutrichtern, zeigte ich dem Mädchen geschwind meine Schleifentechnik. Sie begriff es sofort und freute sich. Verschwörerisch sah ich sie an und legte meinen Finger auf den Mund: „Pssst!“ Im nächsten Moment rief ich die sture Madam herbei und wir präsentierten ihr unsere Ergebnisse. Sie nickte erfreut und lobte obendrein die schönen, gleichmäßigen Schleifen. Dass diese anders gebunden worden waren, als von ihr vorgegeben, bemerkte sie auch mit prüfendem Blick nicht. Wir durften (endlich) gehen.

Jahre später stupste mich eines Tages bei einem Bummel in meiner Heimatstadt ein weibliches Wesen von der Seite an. „Hey! Ja! Du bist es!“ Ich war verwirrt. Wer war sie? Woher kannte sie mich? „Wir waren zusammen im Kindergarten! Du hast mir beigebracht, wie man Schuhe zubindet! Erinnerst du dich? Die Schleifen!“ Natürlich erinnerte ich mich an die Verzieherin, auch wenn ich inzwischen längst beide Schleifentechniken beherrschte. Aus dem Mund der jungen Dame folgte der erstaunlichste Satz der ganzen Geschichte: „Weißt du, ich binde meine Schuhe bis heute so zu!“ Ich war total baff und absolut gerührt. Weder den Tag im Kindergarten, noch das Wiedersehen werde ich jemals vergessen.

Zurück zum Foto auf Spiegel Online und dessen Beschreibungstext, in dem etwas von Kreuzknoten und Altweiberknoten steht, die miteinander verglichen werden. Beim Lesen ratterte es in meinem Hirn und da ich nicht sofort etwas mit den beiden Begriffen anfangen konnte, forschte ich nach. Wikipedia sei Dank (Links im Text) fand ich schnell heraus, was sich hinter den beiden Worten verbirgt und wo die Unterschiede liegen. Schleife ist eben doch nicht gleich Schleife! Die Methode, die mir meine Mutter als die einfachere beibrachte, die zwei kleinen Mädchen lange Erklärungen von einer sturen Frau ersparte, stellte sich am Ende doch als die eigentlich vorteilhaftere Schleife zum Schuhebinden heraus.